Da Ihr meine Tagebücher aus der Schulzeit so interessant fandet, hier die Erinnerungen an das

Frühjahr 1953 in Leipzig

Es war der 17. Lenz meines Lebens. Ich war Schülerin in der 11. Klasse in Leipzig Gohlis. Vom Nordplatz grüßte das erste zarte Grün der Linden, der Namensgeber unserer Stadt. Nicht nur die Natur war im Aufbruch.

Als junger Mensch im geistigen Umbruchs versucht man, seine eigene, ganz persönliche Sicht der Welt in ethischen und politischen Fragen zu finden. Mein Kinderglauben hatte schon bald nach der Konfirmation zu bröckeln begonnen. Um nun zu klären, was Kirche und Religion für mich noch bedeuteten, besuchte ich seit einiger Zeit die wöchentlichen Treffen der evangelischen Jugendgruppe, der Jungen Gemeinde der Friedenskirche. Neben Bibelarbeit gab es interessante Diskussionen. Einmal wurde die Frage aufgeworfen, warum in Sachsen noch keine Frauen von der Kanzel predigten, was zu der Zeit in Holland bereits möglich war. Ein anderes Mal wurden in der Gruppenstunde Anekdoten aus Leipziger Chroniken vorgelesen. Auch plante man für die Osterferien eine gemeinsame Wochenendfahrt nach Sehlis in eines der evangelischen Landheime.

Da ich durch direkten Kontakt einen Überblick über die Themen und Treffen gewonnen hatte, las ich die Zeitungsartikel, die sich in dieser Zeit mit der Jungen Gemeinde befassten mit großem Befremden. Als staatsfeindliche Organisation wurde sie da bezeichnet, als Agentenorganisation, deren Ziel es wäre, Unruhe zu stiften und das Staatswesen der DDR zu untergraben. Offensichtlich war man bestrebt, in der Öffentlichkeit ein völlig falsches Bild über diese kirchlichen Jugendgruppen, die nicht der direkten Kontrolle des Staates unterstanden, zu zeichnen. Bald wurde es auch offenbar, dass Universitäten und Schulen „von ganz oben“, von der Staatsführung her, Anweisungen hatten, gegen Mitglieder dieser Jugendgruppen vorzugehen. Im April wurden zwei Jungen von unserer Schule gewiesen, mit der Begründung, sie hätten sich zu Stalins Trauerfeier „reaktionär“ verhalten. Stalin war wenige Wochen zuvor, am 5. März gestorben, und drei Tage lang standen die politisch zuverlässigsten der Schüler als sogenannte Ehrenwache zu beiden Seiten des Eingangsportals unserer Schule. Sie standen, so weit ich mich erinnere, mit einem Gewehr über der Schulter stramm wie die Ölgötzen, den Blick starr in die Ferne gerichtet, bewegungslos und ohne eine Miene zu verziehen. Da hat dann doch wohl der eine oder andere Schüler, wenn er morgens zur Schule kam, seine Zunge nicht ganz im Zaum halten können und im Vorbeigehen statt feierlich zu salutieren seine Witze über die stramm stehenden Schulkameraden gemacht. War solch ein Schüler zufällig auch in der Jungen Gemeinde, so reichte dieses Fehlverhalten aus, um ihn von der Schule fliegen zu lassen.  Einem der beiden Jungen wurde zusätzlich noch zur Last gelegt, er habe vor einem halben Jahr einen Stuhl zerbrochen. So ein Stuhl war nicht einfach ein Stuhl, den man hätte ersetzen können. Das war ein Stück Volkseigentum! Und laut Gesetz war die Beschädigung von Volkseigentum eine strafbare Handlung.

 

(Schulversammlung soll Junge Gemeinde verurteilen)

 

Am letzten Tag vor den Osterferien wurden alle Klassen unserer Oberschule, das waren die Klassen 9 bis 12 (Anmerkung: Wir hellen Sachsen haben nie 13 Schuljahre benötigt!) für den Nachmittag zu einer Aussprache über die Junge Gemeinde in die Aula bestellt. Unser Deutschlehrer (Dr. Hahn) hielt eingangs ein, wie ich fand, sehr gutes und geistreiches Referat, das die mit diesem Thema verbundenen Probleme anschnitt und zur Diskussion anregen sollte.

Sehr einseitig verlief die Aussprache, denn nur Schüler, die etwas gegen die junge Gemeinde vorzubringen hatten, meldeten sich zu Wort, alle einig in ihrer Meinung, dass religiöse Betätigung nur ein Deckmantel für „staatsfeindliche Organe“ sei. Alle die sprachen waren bereit, durch ihre Vorurteile zu verurteilen. Keiner ließ unerwähnt, dass selbstverständlich jeder in der DDR nach freier Überzeugung seine Kirche wählen und auch besuchen dürfte, aber nicht als „Gegenpolitik“, nicht, um gegen den Staat und seine Verfassung zu arbeiten. Dass dies aber das Bestreben der Jungen Gemeinde sei, wurde von jedem der Diskutanten als Tatsache unterstellt. Keiner, der auch nur ein positives Wort für die hier, nach meiner Sicht, zu Unrecht Beschuldigten vorbrachte!

Und da saß ich nun mittendrin, eine unter einigen hundert Schülern, in dieser angespannten Atmosphäre. Ich wusste es doch viel besser, als alle die bis jetzt den Mund aufgemacht hatten, war ich doch in den vergangenen Wochen regelmäßig bei all den Jugendstunden in der Gemeinde der Friedenskirche, um die ging es hier, dabei gewesen! Ich wusste, dass da nichts Staatsfeindliches war, weder im Reden noch im Handeln, und wohl auch im Denken nicht stärker, als es in diesen Tagen in der Bevölkerung normal war. Zum anderen hatte ich das Gefühl, dass mich all diese Anschuldigungen nicht selbst betrafen, denn ich fühlte mich nicht der Jungen Gemeinde zugehörig. Nicht aus innerer Überzeugung hatte ich diese Stunden besucht, sondern wegen meiner augenblicklichen weltanschaulichen Orientierungssuche. Nicht in eigener Sache würde ich also sprechen, sollte ich mich überhaupt zu Wort melden, sondern sozusagen als neutraler Beobachter, der aber zufällig etwas mehr Einblick in den wahren Sachverhalt hatte. Ob ich etwas sagen sollte? Oder war es besser, sich aus der ganzen Sache herauszuhalten? Aber eigentlich fühlte ich mich gerade durch meine Sonderstellung zwischen den Anklägern und den Beschuldigten im Inneren verpflichtet, etwas Klärendes beizutragen. Warum nur hatte bis jetzt kein anderer Schüler sich zum Fürsprecher der Jungen Gemeinde gemacht? Es war so schwer, den Anfang zu machen! Selbst in dem Bewusstsein, dass ganz viele genau so denken wie man selbst und dass sie im Geiste hinter einem stehen, fühlt man sich in so einem Augenblick total allein. Reden muss man ja schließlich doch selbst! – Je mehr ich darüber nachdachte, umso stärkeres Herzklopfen bekam ich. Bis hinauf zum Hals pochte es. Schließlich siegte dann mein Sinn für ausgleichende Gerechtigkeit, für Fairness, denn es ging nicht an, dass immer nur die eine Seite gehört wurde.

Kaum hatte ich die Hand gehoben, wurde mir auch schon das Wort erteilt. Dann stand ich auf dem Podest vor der vollen Aula. Bis dahin hatte ich mir eigentlich nur überlegt, ob ich überhaupt etwas sagen wollte, aber ich hatte mir noch keine Gedanken gemacht, was ich im Einzelnen vorbringen wollte. Wie unangenehm, wenn man vor der versammelten Schülerschaft steht, und dann fallen einem nicht die richtigen Worte ein! Fast war es für mich selbst überraschend, dass ich in dieser ungewohnten Situation die Kraft fand, frei und sicher zu sprechen, obgleich ich noch immer sehr aufgeregt war.

Einführend musste ich erst einmal klarstellen, dass ich quasi als Gast seit einiger Zeit die Gruppenstunden der Jungen Gemeinde besuchte und somit ihren Geist, ihre Einstellung und ihre Arbeit von innen her beurteilen könnte. Dann zitierte ich: „Was kümmert es mich, ob die Fabel – von Christus – wahr ist; aber ihre Früchte sind vortrefflich.“  Ich kann mir vorstellen, dass unser Deutschlehrer an dieser Stelle in sich hinein geschmunzelt haben müsste, denn dieses Lessing-Wort hatte er uns selbst erst vor Kurzem vermittelt, als wir Nathan, der Weise im Unterricht durchnahmen. Somit war es ja wohl auch allen 11.-Klässlern vertraut. Es will sagen, dass diese Religion zur tätigen Nächstenliebe und zur Lebensbejahung wie auch zur Pflichterfüllung erzieht, und somit könnten doch ihre Anhänger keine bösen, in dem Zusammenhang: keine staatsfeindlichen Absichten ausbrüten. Ich erzählte kurz von den Arbeiten in der Gruppe, dass man, wenn politisches Geschehen gestreift würde, dem keinesfalls gegnerisch gegenüberstünde. Die gesellschaftspolitischen Ziele eines Christen, eines Protestanten, so meinte ich, wären doch weitgehend übereinstimmend mit denen eines jeden Menschen, der guten Willens ist, nämlich um ein friedliches, menschlich würdiges Zusammenleben bemüht.

Hier flocht ich noch einen Vorfall aus dem Geschichtsunterricht vom selben Tage ein. Unser Geschichtslehrer hatte uns erzählt, dass während des vorjährigen Abiturs bei einer Frage über das Kommunistische Manifest von Karl Marx nur einem Prüfling die Worte ‚Proletarier aller Länder, vereinigt euch’ eingefallen seien. Und dieser Schüler sei ausgerechnet aus der Jungen Gemeinde gewesen. Ihm seien diese Worte nur deshalb im Gedächtnis haften geblieben, so schloss unser Lehrer, weil ihm dabei wahrscheinlich der Schrecken in die Glieder gefahren sei.

Der Geschichtslehrer war gleichzeitig der Rektor unserer Schule, und er hielt seine Schlussfolgerung für äußerst geistreich. Ich fand sie eher, na sagen wir, etwas merkwürdig. Konnte man es nicht auch mit gutem Gedächtnis, besserem Lernvermögen, gewissenhafter Prüfungsvorbereitung erklären? Warum diese krampfhafte Suche nach negativen Motiven? Waren denn nicht auch viele Arbeiter Christen? Warum sollten Staat und Kirche nicht auch, zumindest mitunter, die gleichen Ideale haben können, wie beispielsweise im Streben nach sozialer Gerechtigkeit? Ich fand, es gäbe keinen Grund, immer gerade die Junge Gemeinde zu benennen, wenn es gälte, etwas zu verurteilen.

Damit war ich am Ende meiner Ausführungen – und bekam eine Menge Beifall. Jetzt fühlte ich mich gleich viel besser, verglichen mit dem mulmigen Gefühl von vorher. Ein bisschen stolz war ich auch, dass es mir gelungen war, meine Angst vor diesem öffentlichen Auftritt zu überwinden und etwas zu tun statt nichts. Den Ausspruch unseres Landsmannes Erich Kästner lernte ich erst viel später kennen: ‚Das Böse, dieser Satz steht fest, das ist das Gute, das man lässt!’.

Als ich an der Leiterin der Zentralen Schulgruppen vorbei ging, da hatte ich allerdings den Eindruck, ihr wäre es lieber gewesen, ich hätte den Mund gehalten und nichts gesagt. Nach mir sprach nur noch ein Funktionär vom Stadtbezirk. Ja, wir waren schließlich nicht unter uns, man hatte uns schon amtliche Aufpasser geschickt, die sich sicher auch ihre Notizen gemacht hatten. Und dann sprach unser Deutschlehrer das Schlusswort, in dem er es besonders begrüßte, dass ich als einzige für die Junge Gemeinde gesprochen hätte. Man konnte spüren, dass ihm daran gelegen war, mich in Schutz zu nehmen. Er wies darauf hin, dass ich durch meine Offenheit gezeigt hätte, wie ernst es mir sei und dass ich aus Überzeugung gesprochen hätte. Von der Stunde an war er mir noch sympathischer als zuvor schon. Ich hatte den festen Vorsatz, mich nach den Osterferien bei ihm für seine Abschlussworte zu bedanken.

Als ich nach der Versammlung den Heimweg antrat, warteten an der ersten Straßenecke zwei Mädchen aus der Parallelklasse auf mich, die mich voller Begeisterung anstrahlten. Eine von ihnen beteuerte, sie habe geklatscht, bis ihr die Hände weh taten. Klar hab ich mich darüber gefreut. Während wir gemeinsam die Gohliser Straße entlang gingen, bemerkten wir einen dunkelhaarigen jungen Mann, der mit dem Fahrrad langsam an uns vorbei fuhr, an der nächsten Straßenecke anhielt, so tat, als betrachte er die Auslagen eines Schaufensters, um uns dann, als wir vorüber gegangen waren, wieder zu folgen. Da sich an der Friedenskirche unsere Wege trennten, blieben wir mitten im Gespräch noch eine Weile dort zusammenstehen. Der Dunkle fuhr langsam um die Kirche herum, wieder an uns vorbei, weiter bis zur nächsten Straßenecke, kehrte wiederum um – und verschwand schließlich. Wir waren ziemlich sicher, dass er uns, oder eine von uns, beschatten sollte. Es fing an, mir Spaß zu machen. Schließlich hatte ich nichts zu verbergen, ich fühlte mich im Gegenteil in diesem Moment ganz großartig, so als hätte ich eine tolle Leistung vollbracht, voll der Überzeugung, dass es keinen Menschen geben könne, der mir nicht im Grunde seines Herzens recht geben müsse. 

Zu Hause wurde diese Einschätzung gar nicht geteilt! Mutti schlug die Hände überm Kopf zusammen und prophezeite, ich würde mich – und sie auch – noch in Teufels Küche bringen, weil ich immer den Schnabel zu weit aufreißen würde. Ihre Tochter aber fühlte sich wie Egmont und Michael Kohlhaas in einer Person! ‚Feiger Gedanken bängliches Schwanken, weibisches Klagen, ängstliches Zagen rühret kein Elend, macht dich nicht frei’. Der Deutschunterricht bei Dr. Hahn hatte seine Spuren hinterlassen. Aber ich hielt mich zurück, denn Mutti schien auf Grund ihrer Lebenserfahrung wirklich sehr besorgt. Was ich denn tun wollte, wenn ich von der Schule flöge?

 

Schikanen und Bespitzelungen als bewährte Mittel der Politik

 

Aber jetzt waren erst einmal Osterferien, und wir beide, Mutti und ich, fuhren ins Erzgebirge zu einem befreundeten Bauern. Dort, in einem kleinen Dorf zwischen Chemnitz, das nun Karl-Marx-Stadt hieß, und Freiberg hatte ich während des Krieges eine Zeit gelebt, nach dem ersten Bombenangriff auf Leipzig -  am 4. Dezember 1943. ‚Evakuiert’ hieß das im damaligen Sprachgebrauch. Wenn wir glaubten, zwischen weidenden Gänsen und Kuhstall den politischen Problemen entronnen zu sein, so war das ein Trugschluss. Es knisterte auch dort ganz heftig. Der Bauer berichtete von seiner aussichtslosen Lage: Im letzten Herbst hatte er die gesamte Ernte abliefern müssen, durfte nichts für die nächste Aussaat zurück behalten. Für den Eigenbedarf bekam er seinen Anteil nach der Anzahl der Leute auf seinem Hof zugeteilt. Und jetzt im Frühjahr wurde ihm das Saatgut verweigert. Er wusste, dass im Herbst dann trotzdem von ihm der volle Ertrag eingefordert werden würde. Schikanen, wohin man blickte!

Über die Osterferien hatte sich die politische Spannung im Lande keineswegs gelockert. Wo immer man hin kam, wen immer man traf, jeder wusste von Schwierigkeiten zu berichten. In mehreren Fabriken war den Arbeitern der Lohn gekürzt worden, weil sie die zu hoch gesteckte Norm nicht erfüllen konnten, was wiederum teilweise aber auch auf Materialmangel zurückzuführen war.

Hinter vorgehaltener Hand erzählte man sich auch in zunehmendem Maße von Bespitzelungen und Denunziationen. Einige hatten gehört, dass mitunter sogar die Lehrer ihre Schüler aushorchten, um zu erfahren, ob deren Eltern etwa westliche Rundfunksendungen anhörten, wie beispielsweise RIAS (Rundfunk im Amerikanischen Sektor). Dafür gab es eine sehr einfache Methode. Man brauchte die eifrigen kleinen Schüler nur am Montag zu fragen: „Na, wer kann mir denn am besten berichten, was Onkel Tobias (das war zu der Zeit eine beliebte Kindersendung im RIAS) gestern erzählt hat?“ Schon flitzten die Fingerchen in die Höhe, in der Annahme, der Fleiß würde belohnt. Pustekuchen! Der Lehrer konnte sich auf einen Blick über die ‚subversiven Elemente’ in seiner Klasse bzw. deren Eltern informieren. Und wohl nicht nur sich, sondern auch die ‚Organe’, die an derlei Erkenntnissen interessiert waren.

Bezeichnend für die Atmosphäre in jenem Frühjahr 1953 in der DDR war auch das Erlebnis einer jungen Grundschullehrerin in Leipzig. Sie hatte sich im Treppenhaus mit einer Nachbarin unterhalten und ihr dabei von ihren Plänen für den nächsten Tag erzählt, dass sie viel zu erledigen hätte, denn sie wollte gleich nach dem Unterricht „nach dem Westen gehen“. Ihre Schwester in Lindenau, einem Vorort im Westen Leipzigs, hatte Geburtstag! – Am nächsten Morgen, als sie zur Schule gehen wollte, stand ein Kriminalbeamter vor ihrer Tür und forderte sie auf, mit ihm in die Wächterstraße auf Polizeirevier zu kommen. Die Lehrerin war völlig verblüfft. Ihrer Bitte, der Polizist möchte doch wenigstens auf der anderen Straßenseite gehen, wurde auch nachgekommen. Sie würde um diese Zeit ja sicher einigen ihrer Schüler begegnen, und welchem Lehrer wäre das nicht peinlich, gerade vor ihren Augen von einem Polizisten abgeführt zu werden.

Während des Verhörs quetschte man sie aus, um zu erfahren, was sie denn für diesen Tag vorhatte. Sie erzählte alles, aber man war mit diesen Antworten offenbar nicht zufrieden. Nicht die blasseste Ahnung hatte sie, was man denn eigentlich von ihr wollte. Endlich, nach langer banger Zeit des zermürbenden Frage- und Antwortspiels, fragte man sie direkt, ob sie sich erinnern könnte, dass sie geäußert hätte, sie wollte an diesem Tag noch nach dem Westen. Es ist wohl verständlich, dass die ‚Angeklagte’ von einem befreienden Lachkrampf gefallen wurde.

Irgendein eifriger Nachbar hatte einen Teil der Treppenhaus-Unterhaltung dieser Lehrerin aufgeschnappt und sie auf das Wort ‚Westen’ hin beim Stasi, dem Staatssicherheitsdienst, angezeigt. Sie musste nun erklären, wie sie dieses Wort gemeint hatte. Und erst als nach wiederum einer Stunde der Beweis erbracht war, dass in Lindenau ihre Schwester wirklich an diesem Tage Geburtstag hatte und sie dazu eingeladen war, wurde sie endlich wieder freigelassen.

Auch mein Auftreten in der Aula sollte noch ein unangenehmes Nachspiel haben.

 

Ein Jugendstreich und seine politische Auslegung

Die mir bekannte Jugendgruppe der Jungen Gemeinde war Mitte April zu dem seit Wochen geplanten und vorbereiteten Freizeit-Wochenende in ihr Landheim nach Sehlis gefahren. Wenn ich gewollt hätte, dann hätte ich durchaus mitfahren können. Da Mutti, sie war Röntgenassistentin im kassenärztlichen Dienst, sich aber ohnehin stets beschwerte, sie hätte kaum etwas von mir, hatten wir ja für die Osterferien etwas gemeinsam unternommen. Es war also mehr oder weniger Zufall, dass ich nicht mit in Sehlis war. Aber ich kannte die meisten Jungen und Mädchen, die an dem Wochenend-Ausflug teilnahmen. Ich wusste also, Ziel und Zweck dieser Fahrt waren, beisammen zu sein und Spaß zu haben. Später stand allerdings in den Zeitungen, ‚um geschult zu werden’. Die Presse versuchte der Öffentlichkeit einzureden, dass es sich hierbei um eine Gruppe junger Leute handle, die speziell von irgendwelchen ‚Hetzern im Talar’ ausgewählt worden seien.

Von denen, die in Sehlis dabei waren, ist mir später erzählt worden, dass es im April in den leicht gebauten, barackenartigen Unterkünften noch lausig kalt war. Die Decken waren klamm, und um trotz der Kälte einigermaßen einschlafen zu können, kuschelten sich einige Mädchen zu zweit auf ein Lager, um sich gegenseitig zu wärmen. Die Jungen schliefen in einer anderen Baracke. Um den Mädchen einen Schabernack zu spielen, hatten sie, als alles schon ruhig war, eine rasch zusammengebundene Strohpuppe direkt gegenüber der Eingangstür der Mädchenbaracke an einen Baum gehängt. Ein Junge hatte seinen Schlafanzug geopfert, der für diese Nacht ohnehin nicht warm genug und somit ungeeignet war. Pantoffeln waren mühsam an den Strohbeinen befestigt worden. Und irgendwoher fand sich auch ein Schlips, der war zufällig rot und hatte weiße Punkte. Das sollte später noch eine wichtige Rolle spielen. Jedenfalls waren die Jungen mit ihrem Werk sehr zufrieden und freuten sich schon auf die Gesichter der Mädchen am nächsten Morgen. Wenn es vielleicht auch den Zweck, die Mädchen zu erschrecken, nicht ganz erfüllen würde, es war ein drolliger Einfall und alle würden es spaßig finden.

So krochen auch die letzten unter ihre kühlen Decken und schliefen ein. Ruhige, dunkle, friedvolle Frühlingsnacht auf dem Lande!

Nur nicht lange. Mitten in der Nacht wurde die Herberge von Volkspolizisten umstellt. Sie drangen in die Schlafräume, wollten mitten in der Nacht von jedem den Personalausweis sehen, schrieben sich alle Namen auf. Alle mussten heraus aus ihren Betten und in der Kälte der Nacht an den Barackenwänden stehen. Einige der Jugendlichen wurden festgenommen und auf der nächsten Polizeistation verhört.

In den Zeitungen konnte man dann lesen, warum diese ganze Aktion. Einige besorgte Bauern hätten spät in der Nacht von der Ferne eine Gestalt am Baume hängen sehen, hätten geglaubt, jemand wäre umgebracht worden oder hätte Selbstmord begangen. Und deshalb wurde die Polizei verständigt.

Die Polizisten, in ziemlich großer Zahl angerückt, hätten ja eigentlich wieder abziehen können, als sie feststellten, dass es nur eine Strohpuppe, eine Art Vogelscheuche war. Das geschah aber nicht. Die Interpretation in den Zeitungen geschah aus einem möglichst ungünstigen, diskriminierenden Blickwinkel, selbst die Tatsache, dass zwei Mädchen zusammen auf einer Matratze geschlafen hatten. Aber vor allem die Strohpuppe! Damit, so schrieb die Zeitung, war bewiesen, dass es sich hierbei um eine Terroristische Organisation handle; denn diese Jugendlichen übten sich schon darin, Menschen aufzuknüpfen. Vorläufig seien es nur Strohpuppen, aber bald würden es Menschen sein, die ihnen zum Opfer fielen! Auf jeden Fall war die Puppe ein Symbol, ganz eindeutig! Ja, und der Schlips! Im Dunkeln hatte man ihn wohl für einfarbig rot gehalten, und somit sollte die Strohpuppe nach den ersten Zeitungsberichten einen Volkspolizisten darstellen; die Vopos trugen rote Schlipse. Am nächsten Tag musste man wohl bei genauerer Betrachtung noch die weißen Punkte entdeckt haben. Aha! Trug nicht der damalige Präsident der DDR, Wilhelm Pieck, auf den meisten Fotos solch einen Schlips? Alles klar, die Puppe, so konnte man am darauffolgenden Tage in den Zeitungen lesen, sollte eine symbolische Hinrichtung des Staatsoberhauptes sein.

Der Osterausflug war damit zur öffentlichen Affäre geworden. In allen Betrieben und Schulen gab es Wandzeitungen, nicht gedacht für amtliche Bekanntmachungen, sondern für Zeitungsausschnitte und politische Kommentare. Gleich in den ersten Tagen nach den Osterferien wurden auch an der Wandzeitung unserer Leibnizschule rege Stellungnahmen gegen die Junge Gemeinde angebracht unter der dicken, ins Auge knallenden Überschrift ‚Sogenannte Junge Gemeinde – Tarnorganisation für Kriegshetze, Sabotage und Spionage im USA-Auftrag’.

Eine der Schülerinnen, die selbst mit in Sehlis war, wagte es, an der Wandzeitung einen Bericht anzubringen, worin sie schilderte, wie sich alles zugetragen hatte, dass sie es selbst miterlebt hatte. Noch am selben Vormittag kam der Turnlehrer mitten im Unterricht zu ihr ins Klassenzimmer und befahl ihr im Namen der Schulleitung, ihre Sachen zusammenzupacken und nach Hause zu gehen. Sie durfte nicht mehr zum Unterricht kommen.

Wir mit unseren 16 Jahren frönten damals dem Glauben, man dürfte die Wahrheit unter allen Umständen sagen. Waren es nicht sogar irgendeinmal unsere Lehrer gewesen, die uns so etwas Abwegiges gelehrt hatten? Langsam fing ich an, Muttis Bedenken zu begreifen.

 

In die Mangel genommen

Für den Nachmittag desselben Tages, an dem man diese Schülerin nach Hause geschickt hatte, war eine politische Überprüfung aller anderen Schüler angesetzt. Als Anlass diente der Umtausch der FDJ-Mitgliedsbücher gegen neue Exemplare. Die FDJ, Freie Deutsche Jugend, war die staatliche Jugendorganisation in der DDR. Praktisch waren alle Oberschüler auch Mitglieder dieser Organisation. Weigerte sich einer, ihr beizutreten, dann kam er – oder sie – gar nicht erst auf eine weiterführende Schule. Die Zahl der Ausnahmen war unbedeutend. Mit diesem Ausweis-Umtausch konnte man also sicher sein, alle Schüler erfasst zu haben.

Die damit verbundene Überprüfung ging so vor sich, dass jeder Schüler einzeln zu einer Aussprache mit ein oder zwei Funktionären, die eigens dafür von der Bezirksleitung in die Schule geschickt worden waren, in einen gesonderten Raum gerufen wurde. Den Funktionären lagen die Beurteilungen der einzelnen Schüler vor, abgefasst vom zuständigen FDJ-Sekretär, vielleicht auch von politisch engagierten Lehrern. Anhand dieser Unterlagen wurde die Befragung durchgeführt. Sie hatte das Ziel, herauszufinden, ob der eine oder andere von der offiziellen Linie in seiner Denkweise abwich. Wenn ja, dann wurde ihm ins Gewissen geredet und versucht, ihm klar zu machen, dass er sich im Unrecht befinde und die Partei im Recht.

Wir saßen in unserem Klassenzimmer und spielten Skat, um uns die Zeit zu vertreiben, bis wir einer nach dem anderen aufgerufen werden sollten. Zwanzig bis dreißig Minuten dauerte die Aussprache bei den meisten. Johannes, einen der wenigen Katholiken, behielten sie schon eine dreiviertel Stunde und quetschten ihn aus. Aber ich war immer noch nicht dran. Mich hatten sie sich wohl als besonderen Leckerbissen bis zum Schluss aufgehoben.

Endlich, die meisten waren längst schon wieder nach Hause gegangen, wurde ich gegen halb acht Uhr abends aufgerufen. Ich wurde ins Vorzimmer des Rektorats geführt, wo gleich hinter der Tür ein Tisch aufgestellt worden war, zwei Stühle dahinter, einer davor. Der vordere war für mich. Hinter dem Tisch saßen zwei dunkelhaarige, eigentlich recht sympathisch aussehende junge Männer, die ich lieber unter anderen Umständen kennen gelernt hätte. Für fast zwei Stunden nahmen die mich in die Mangel!   Als ich kurz vor halb zehn Uhr endlich wieder aus diesem Zimmer herauskam, fühlte ich mich wie gerädert. Es war zwar nur gesprochen worden, aber für mich war es das Unangenehmste, das ich in meinem jungen Leben bis dahin über mich ergehen lassen musste.

Bereits aus der Diskussion vor den Osterferien in der Aula wussten die beiden FDJ-Funktionäre, die damals höchstwahrscheinlich anwesend waren, wie meine Einstellung, insbesondere zu den Anschuldigungen gegen die Junge Gemeinde war. Nun kamen noch die Ereignisse von Sehlis hinzu, an denen ich ja - aber nur zufällig – keinen Anteil hatte. Vor mir wurden die Zeitungsausschnitte zu diesem Vorfall ausgebreitet und ich wurde befragt, was ich davon hielte. Also habe ich ihnen erzählt, was ich von denen wusste, die dabei gewesen waren, habe versucht zu erklären, wie es nun wirklich war, auch dass die Jugendlichen nicht besonders ausgewählt worden waren, da ich selbst ja um ein Haar auch mit nach Sehlis gefahren wäre.

Aha, soso, ich würde also nicht glauben, was in der Leipziger Volkszeitung und in der Jungen Welt, dem Organ der FDJ stünde.

Gewiss, ich glaubte es nicht, denn ich wusste ja den wahren Sachverhalt, und ich kannte die Jungen und Mädchen, die dabei gewesen waren.

Ob ich damit sagen wollte, dass unsere staatlichen Organe (gemeint sind damit die Zeitungen) Lügen verbreiten wollten? Nein, sagen wollte ich das durchaus nicht, nur ich für meinen Teil konnte es nicht glauben. So ging das eine Weile hin und her, bis das Gespräch eine andere Wendung nahm.

Nun, wenn ich als FDJ-Mitglied dem Zentralorgan (auch das bedeutet: Zeitung) der FDJ keinen Glauben schenkte, dann könnte ich ja auch nicht mit gutem Gewissen weiterhin Mitglied der FDJ sein, dann müsste ich die Schlussfolgerung ziehen, also aus der FDJ austreten.

Raus aus der FDJ war gleichbedeutend mit runter von der Schule, diese Erkenntnis gehörte zum Allgemeinwissen. Jegliche Aussicht auf ein Studium wäre damit dahin, das war mir völlig klar. Falls mir aber diese Einsicht fehlen sollte, wurde es mir nun auch gleich noch mit großem Nachdruck vorgehalten: Wir würden schließlich für die Gesellschaft lernen und zwar mit den Mitteln, die von den Werktätigen erarbeitet werden. Verhielte ich mich nun aber gegen die Interessen der Gesellschaft, und das würde das Nichtglauben der Zeitungsartikel ja beweisen, so wäre die werktätige Bevölkerung berechtigt, mir den Weg der weiteren Ausbildung abzuschneiden. - Das war angewandte Dialektik.

Warum hatte ich plötzlich das eigenartige Gefühl, der Fußboden würde unter mir nachgeben? Auch schien er zu wackeln; mal war er unter dem rechten Fuß höher, dann wieder tiefer als unter dem anderen. Zum Glück saß ich ja.

Wechselweise redeten die beiden doch sonst ganz nett aussehenden Jünglinge auf mich ein und versuchten, mich zu überzeugen. Nach dem Schreckschuss einer drohenden Schulentlassung wurde ich nun wiederum wie ein armes, verirrtes Schäfchen behandelt, wie ein von dunklen Hintermännern verführtes Opfer, dem man helfen wollte, auf den rechten Weg der Linientreue zurückzufinden. Man wollte ja nur mein Bestes!

Dieses Gespräch musste doch auch irgendwie einmal zu Ende gehen, etwas Abschließendes müsste gesagt werden. Mein taktierendes Zugeständnis „Nun, dann muss ich ja wohl aus der Jungen Gemeinde austreten“, obgleich ich ja eigentlich nie eingetreten war, wurde als nicht ausreichend abgetan. Eine eindeutige Stellungnahme war gefordert. In meinem Kopf war Feuerwerk. Ich konnte doch unmöglich jetzt nach zwei Stunden plötzlich behaupten, ich würde nun alles glauben, was ich die ganze Zeit zu widerlegen versucht hatte. Ich konnte ihnen nicht vorgaukeln, ich hätte mich eben getäuscht. Das kaufte mir doch keiner ab!

Von der Schule fliegen wollte ich auf gar keinen Fall. Dass die beiden Jugendfreunde sich ihrerseits von meinen wunderbaren Argumenten überzeugen ließen und mir und meinen Ansichten zustimmten, das war ja überhaupt nicht drin. Sie hatten einen politischen Auftrag, mich zu überzeugen und nicht die Wahrheit zu suchen. Krampfhaft versuchte ich mich in sie hinein zu versetzen. Was erwarteten sie eigentlich, was ich sagen sollte, wie ich mich verhalten sollte? Es lag so ein Druck auf mir, denn ich spürte, dass ich das richtige Wort finden musste, und zwar möglichst bald. Wie wäre das schön, könnte man sagen: ‚Ich schlafe mal drüber. Ich berede das mit meiner Mutter und mit meinen Freunden.’ Immer wieder fragte ich mich, ob ein Nachgeben meinerseits überhaupt glaubwürdig erscheinen konnte.  Doch vielleicht war dies gar kein so wichtiger Gesichtspunkt für die beiden. Möglicherweise war jetzt die Hauptsache, dass diese Aussprache zu einem für sie günstigen Ausgang kam. Die beiden hatten auch einen langen anstrengenden Nachmittag hinter sich und waren sicher auch ganz schön geschafft, so wie ich.

Schließlich sagte ich, und das unterschied sich kaum von dem vor einer halben Stunde Gesagten, dass ich ganz freiwillig und aus freiem Entschluss nun nicht mehr zu den Treffen der Jungen Gemeinde gehen wollte. Siehe da, sie waren zufrieden. Das Wörtchen ‚freiwillig’ war das Zauberwort gewesen. Für die Wandzeitung sollte ich noch eine Erklärung schreiben und mich außerdem verpflichten, das ‚Abzeichen für gutes Wissen’ abzulegen. Sie meinten in Bronze. Aber da hatte ich schon wieder Oberwasser und legte eins drauf: in Silber. Letzteres war nämlich leichter; man musste dafür den Lebenslauf Stalins auswendig lernen, und der war ohnehin gerade im Geschichtsunterricht dran! Aber das wussten die natürlich nicht und ich hütete mich, das zu verraten.

Fürs erste war ich heilfroh, jetzt erst einmal hier heraus zu kommen, raus aus dem leeren Schulgebäude, raus um frische Luft atmen zu können! Ich fühlte mich wie zerschlagen, wie nach einer großen körperlichen Strapaze. Aber zum Glück war dies nun erst einmal überstanden und das für kurze Zeit drohende Unheil einer Schulentlassung abgewendet!

Der Druck wird erhöht

Gewiss war ich mir bewusst, dass ich in der nächsten Zeit wohl sehr eingehend unter die Lupe genommen werden würde, ob ich etwas Falsche sagte, dachte oder gar tat. Nur wusste ich nicht, wer mich zu beobachten hätte. Wie ich erst viele Jahre später von einem meiner Klassenfreunde erfuhr, hatte man ihn an jenem Nachmittag damit beauftragt, ‚Patenschaft’ zu übernehmen. Ausgerechnet Murray! Er hatte auch noch einen gutbürgerlichen Vornamen, aber für uns hieß er seit jeher Murray. Und ausgerechnet er war der erste aus unserer Klasse, der durch die sich überstürzenden harten Maßnahmen des Staates schon in den darauf folgen Wochen gezwungen war, mit seinen Angehörigen einen Weg in die Bundesrepublik zu suchen. Murrays Mutter hatte einen Minibetrieb für Lederverarbeitung mit einer handvoll Arbeiter, ‚eene kleene Klitsche’ auf gut Sächsisch. Die gute Frau war somit eine Kapitalistin, eine Ausbeuterin. Ihr und ihrer Familie wurden deshalb die Lebensmittelkarten entzogen.

Lebensmittelkarten gab es noch bis Ende der fünfziger Jahre in der DDR. Es war nicht mehr alles rationiert, aber doch noch Fleisch, Butter und Zucker. Das garantierte, dass jeder wenigstens etwas zu moderaten Preisen bekam. Ging man ‚konditern’, bestellte man also ein Stück Kuchen, dann musste man die entsprechenden Abschnitte für Zucker und bei Torten auch für Fett berappen. Die Händler der Lebensmittelgeschäfte saßen am Ende des Monats mit der ganzen Familie einträchtig am großen Tisch und klebten die vielen hundert kleinen Schnipsel auf, als Beleg, dass wirklich alle Ware gegen Lebensmittelkarten verkauft worden war und nicht vielleicht verschoben oder gegen Ersatzteile eingetauscht.

Ohne Lebensmittelmarken konnte man auch an Nahrhaftes kommen, allerdings zu wesentlich höheren Preisen, in den Geschäften der HO, der ‚Handelsorganisation’.  Damit Murrays Mutter diese Möglichkeit verbaut war, wurde auch ihr Konto bei der Bank gesperrt. Sie konnte somit auch ihre Mitarbeiter nicht entlohnen. Irgendwann bekam Murray auffällig oft am Sonnabend eine Erkältung und musste entschuldigt dem Unterricht fernbleiben. Das ging paar Wochen so, bis Murray ganz wegblieb. Republikflucht nannte man so etwas. Er war mehrere Wochenenden mit dem Fahrrad von Leipzig nach West-Berlin und wieder zurückgefahren, um schon mal einige Klamotten dort zu deponieren. Das war also mein Pate, der über meinen sozialistischen Tugenden wachen sollte!

Aber vorher erlebte er noch mit, wie einige Wochen nach dem Umtausch der FDJ-Mitgliedsbücher wiederum eine Vollversammlung in der Aula abgehalten wurde, in deren Verlauf acht weitere Schüler und Schülerinnen von der Schule flogen. Sie alle waren mit in Sehlis gewesen.  Zwei von ihnen hatten im vergangenen Schuljahr einen Notendurchschnitt von 1,2 erreicht, und das war damals genau so schwer zu erlangen wie heute am Gymnasium. Einige von ihnen waren bereits in der Abiturklasse, und die Abschlussprüfungen würden in drei Wochen beginnen. Das spielte alles keine Rolle. Beschlossen ist beschlossen. Die Partei kann sich nicht irren. Diese Schüler mussten von der Schule gewiesen werden.

Waren auch diese Maßnahmen ‚oben’ bei denen, die den politischen Ton angaben, beschlossen worden, so musste doch stets der demokratische Schein gewahrt bleiben. Deshalb wurde in der Vollversammlung über jeden Schüler einzeln abgestimmt. Doch hatte es auf das Ergebnis gar keinen Einfluss, dass bei den ersten Abstimmungen noch mehr als die Hälfte gegen den Antrag eines Schulausschlusses stimmte. Mit der Auszählung der Stimmen, die durch Handzeichen erfolgte, war ein Mitschüler betraut, der politisch besonders aktiv und zuverlässig war und der auch in dieser Situation wusste, was von ihm erwartet wurde. Ganz gleich, ob die Gegenstimmen überwogen, er verkündete jedes Mal, dass der Antrag mir großer Mehrheit angenommen sei.

Allmählich machte sich Hoffnungslosigkeit breit. Die meisten begriffen, wie aussichtslos es war, etwas dagegen zu unternehmen. Es lag ja erst kurze Zeit zurück, dass die FDJ-Funktionäre mit jedem von uns ein ausführliches Gespräch geführt hatten und somit über jeden recht gut Bescheid wussten. Von Mal zu Mal wurden es weniger, die noch wagten, gegen die Anträge der politischen Leitung zu stimmen. Und dann wurden auch schon die ersten von denen, die dagegen gestimmt hatten, herausgegriffen, befragt, was ihre Meinung dazu sei, und dann wurde kurzer Prozess gemacht. Auch sie flogen gleich mit von der Schule. Alles in einem Aufwasch! Säuberungsaktion nannte man so etwas. Die Partei jedenfalls hatte immer völlig Recht.

Oder doch nicht? Oder hatten sich nicht alle Funktionäre vorher abgesprochen? War man etwa in Leipzig zu übereifrig gewesen?

 

.... einen Schritt zurück  (Die Partei steckt zurück)

Einen Monat später, Ende Mai, klangen in der Presse zum ersten Mal zaghaft etwas sanftere Töne an. Zwar wurde die Junge Gemeinde noch immer als eine illegale Organisation betrachte, doch galt es nun bereits als Überspitzung, dass man in Leipzig alle ihre Mitglieder von der Universität gewiesen hatte. Walter Ulbricht, der Generalsekretär der SED, hatte höchstpersönlich dies festgestellt. Weiterhin war zu lesen, dass er gesagt haben soll, man könne auch die Junge Gemeinde nicht als Agentenorganisation bezeichnen. Sie würde zwar von englisch-amerikanischen Agenten in West-Berlin geführt, aber die einzelnen Mitglieder wären keine Agenten. Das waren die ersten Anzeichen dafür, dass der Druck der letzten Wochen zumindest gegen diese Gruppe nicht weiter verstärkt werden sollte.

Es vergingen aber noch zwei Wochen, bis die ersten wirklich spürbaren Erleichterungen eingeleitet wurden. Am 11. Juni erschien in allen Zeitungen ein Kommuniqué über eine Besprechung von Vertretern des Ministerrates und der evangelischen Kirche. Darin wurde nun endlich offiziell angeordnet, keine weiteren Maßnahmen gegen die ‚sogenannte Junge Gemeinde’ einzuleiten. Darüber hinaus sollten auch alle ‚entfernten’ Schülerinnen und Schüler ab sofort wieder zum Unterricht zugelassen werden, und es sollte ihnen die Möglichkeit gegeben werden, die versäumten Prüfungen nachzuholen.

Für die Abiturienten war diese Erleichterung trotz allem noch eine gewisse Härte. All ihre früheren Klassenkameraden hatten ja zu diesem Zeitpunkt das Abitur bereits in der Tasche. Doch es ist anzunehmen, dass viele Lehrer ihre Sympathie mit den Gestraften dadurch zum Ausdruck brachten, dass sie bei den Prüfungen etwas mehr Milde walten ließen, als man von Paukern normalerweise erwartet.

Fünf Tage nach der Veröffentlichung des Kommuniqués, am 16. Juni, wurde in Leipzig getuschelt, dass am Nachmittag viele, viele Berliner gemeinsam vors Regierungsgebäude gezogen seien, allen voran die Bauarbeiter der Stalinallee. Sie verlangten eine Herabsetzung der Norm, also dessen, was von ihnen als mindeste Tagesleistung auf dem Bau verlangt wurde. Sie forderten, dass ihre Löhne wieder nach den früheren Tarifen gezahlt werden sollten und eine Herabsetzung der Lebenshaltungskosten, damit man für sein Geld mehr kaufen könne. Alle künftigen Normerhöhungen sollten nur dann eingeführt werden, wenn die betroffenen Arbeiter dem auch freiwillig zugestimmt hätten. Außerdem wurde die Regierung aufgefordert, freie Wahlen durchführen zu lassen.

So etwas hatte es seit Bestehen der DDR überhaupt noch nicht gegeben. Zumindest ich hatte nie von dergleichen gehört und es auch für unvorstellbar gehalten. Ob sich dadurch etwas änderte? Wie würde es weiter gehen? Spannung lag in der Luft.

 

Der 17. Juni 1953 in Leipzig

 

Am folgenden Tag, dem 17. Juni, war seit langer Zeit zum ersten Mal wieder schönes Wetter. In den Vororten Leipzigs schien alles seinen gewohnten Gang zu gehen. Nur vor den Geschäften standen ungewöhnlich lange Schlangen. Auch schienen die Erwachsenen irgendwie unruhiger und nervöser als sonst. Und dann hörte man die ersten Gerüchte: „In der Stadt tut sich was!“ Einige wussten zu berichten, dass es nach den Berliner Ereignissen vom Vortage nun in fast allen Industriestädten Unruhen und Aufstände, Streiks und Forderungen gäbe. Und was war bei uns in Leipzig? Um mich selbst davon zu überzeugen, schwang ich mich aufs Fahrrad und fuhr in die Innenstadt.

Auf dem Vorplatz vom Leipziger Hauptbahnhof  sind ungewöhnlich viele Menschen, die sich jedoch ruhig verhalten. Nur auf der Straße liegen überall zertrampelte Plakate. Am Rande des Platzes steht ein Panzer mit Russen. Die Ritterstraße ist gestopft voll, so dass ich mein Fahrrad schieben muss und nur langsam vorwärtskomme. Überall auf dem Straßenpflaster liegen Urkunden, FDJ-Mitgliedsmarken und Akten und Papiere verstreut. Weiter komme ich nicht, denn der Straßenabschnitt vor mir ist abgesperrt. Eine dicke Qualmwolke steigt dort weiter hinten auf: Das FDJ-Verwaltungsgebäude war von empörten Demonstranten gestürmt worden. Sie hatten alle Dokumente durch die Fenster auf die Straße geworfen und angezündet. 

Vom Johannesplatz her kommt mir ein kleiner Demonstrationszug entgegen. Dieselben Forderungen, die sie auf Transparenten mit sich führen, leuchten auch von den Straßenbahnwagen: ‚Wir fordern Freiheit!’ - ‚Für freie Wahlen!’ – ‚Wo ist Pieck?’  Wilhelm Pieck, der Präsident der DDR, war von den drei Männern an der Regierungsspitze noch der beliebteste. Über ihn waren in letzter Zeit die wildesten Gerüchte im Umlauf, unter anderem auch, er wäre in die Sowjetunion abgeschoben worden.

Andere Losungen forderten ‚Nieder mit der Regierung’ oder verkündeten ’Spitzbart und Brille sind nicht des Volkes Wille!’, womit Walter Ulbricht und Otto Grotewohl gemeint waren.

Auf Walter Ulbricht war man am schlechtesten zu sprechen, besonders hier in seiner früheren Heimatstadt, wo ihn viele noch von seiner Ausbildungszeit her kannten. Auch wohnte seine erste Frau noch in Leipzig.

In Dresden soll in diesen Tagen an einer Reiterstatue August des Starken der Spruch angebracht worden sein: ‚Lieber August, steig hernieder, führe unser Sachsen wieder. Lass in diesen schlechten Zeiten lieber Walter Ulbricht reiten!’

Wie aufregend das alles! Die meisten Passanten zeigen recht zufriedene Gesichter. Einige Bonzen machen sich noch wichtig, indem sie versuchen, mit ihren Reden die Menschen um sich herum aufzuklären. Sie ernten aber nur Spott und Gelächter.

Nie zuvor habe ich solch eine Situation erlebt, eine Stimmung, die körperlich zu spüren ist, die sich ausbreite und offenbar alle Menschen auf der Straße gleichermaßen zu ergreifen scheint! Ich muss unbedingt jemanden suchen, mit dem ich über all diese nie erlebten Ereignisse und über meine Eindrücke reden kann!

So rasch ich kann, radle ich wieder nach Gohlis, unseren Vorort, wo alles still ist, wie an jedem gewöhnlichen Tag, ja, vielleicht noch ruhiger. Die Erwachsenen, die sonst um diese Tageszeit von der Arbeit nach Hause kommen, sind größtenteils in der Innenstadt geblieben.

Nach einem kurzen Abstecher bei zwei Klassenkameradinnen radeln wir nun zu dritt wieder zum Hauptbahnhof. Man kann einfach nicht still zu Hause sitzen bleiben! Die vielen Menschen in der Innenstadt, unterdessen viel mehr als zuvor, und das Außergewöhnliche dieses Juninachmittags üben gleichsam eine magische Anziehungskraft auf uns aus.

Die Straßenbahnen auf dem Bahnhofsvorplatz stehen alle still. Es sitzen auch keine Fahrgäste darin.

Plötzlich kommen zwei Panzer ziemlich schnell angerollt. Russen mit Karabinern, schussbereit vor sich haltend, springen ab und rennen auf die dicht gedrängten Menschen zu. Die ersten Schüsse fallen.  Verschreckt versuchen alle nun auseinander zu streben. Schutzsuchend verstecken wir drei Mädchen uns mit unseren Rädern zwischen den Straßenbahnen. So ganz geheuer ist und nun doch nicht mehr. Aber noch wird die aufsteigende Bangigkeit übertönt von einer Spannung oder auch Begeisterung für das Ungeheuere dieser Stunden. Es treibt uns weiter. Die Stalin-Statue am Augustusplatz, damals schrieb er sich Karl-Marx-Platz, steht noch. Hätte ja sein können.

Überall stehen auch hier auf diesem großen Platz viele Menschen in Gruppen zusammen. Vom Markt her zieht eine dicke hohe Qualmwolke zu uns herüber: Den ‚Pavillon der Nationalen Front’, einen Propaganda-Kiosk, hat man erst zerstört und danach angezündet.

In rascher Fahrt rollen jetzt zwei Panzer direkt auf uns zu. Sie fahren schneller als wir rennen können. Voller Panik versuchen wir, uns hinter einem Pfeiler am Eingang zu einem Trümmergrundstück zu verstecken. Russische oder korrekter sowjetische Soldaten schießen in die Luft, dann hält der Panzer an und wendet.

In der Grimmaischen Straße stehen gleich mehrere Panzer hintereinander. Sobald ein Passant stehen bleibt, laufen einige Russen mit vorgehaltenem Geweht auf ihn zu. Einer hält sein Gewehr über den Kopf einer Frau und schießt in die Luft.

Als wir das sehen, wird uns doch recht unbehaglich. Wir haben genug und versuchen jetzt so rasch wie möglich aus der Menschenmenge herauszukommen. Nichts wie heim! Und bald sind wir mit unseren Drahteseln auch wieder in den ruhigeren Straßen.

Noch auf dem Heimweg sehen wir, wie von Russen an den Litfasssäulen große Plakate angeklebt werden. Die haben sie aber schnell gedruckt! ‚Befehl der sowjetischen Militärkommandantur’. Wie schon zuvor über Berlin ist nun auch über Leipzig der Ausnahmezustand verhängt worden. Zwischen 21 Uhr und 5 Uhr darf niemand auf die Straße. Menschenansammlungen von über drei Personen und Demonstrationen sind verboten. Alle sollen am nächsten Tag wieder wie gewohnt zur Arbeit gehen. Bei Zuwiderhandlung werden militärische Maßnahmen ergriffen.

Ein Frühling geht zu Ende

Für den nächsten Schultag war für unsere Klasse eine schriftliche Geschichtsprüfung angesetzt. Es ging ja auf das Ende des Schuljahres zu. Da der Unterrichtsstoff in der 11. Klasse ausschließlich Sowjetunion, Klassenkampf und unsere Gegenwart umfasste, ließ ich mich durch die Ereignisse des Vortages zu der irrigen Annahme verleiten, die Geschichtsprüfung müsste ausfallen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass wir ohne Kommentar zur Tagesordnung übergehen und alles so weitergehen sollte, als wäre nichts geschehen. Ziemlich groß war meine Enttäuschung, als unser Rex pünktlich wie immer ins Klassenzimmer trat und wir schön brav unsere Geschichtsarbeit schreiben mussten.

Bei den Schießereien des vergangenen Tages waren auch einige Menschen in Leipzig ums Leben gekommen, einer war von einem Volkspolizisten erschossen worden. Nun wurde der Leichnam auf einer Bahre trotz des Verbotes in einer Demonstration durch die Stadt getragen, voran ein Plakat: ‚Er wurde von einem deutschen Volkspolizisten erschossen’.

Ansonsten normalisierte sich das Leben langsam wieder. Alle waren wieder zur Arbeit gegangen. In vielen Betrieben waren die Arbeiter zwar noch in Sitzstreik getreten, aber die Resignation, das Gefühl der Machtlosigkeit gegenüber brutaler Gewalt, die Aussichtslosigkeit, etwas Entscheidendes erreichen zu können, griff rasch um sich.

Die Zeitungen wie auch einige politisch Linientreue unter den Lehrern und Schülern versuchten uns einzureden, dass amerikanische Agenten und bezahlte Provokateure die Volksmenge aufgewiegelt hätten. Na, diese Masche mit den anglo-amerikanischen Agenten, die zog nicht mehr, die war schon bei den Diskussionen um die Junge Gemeinde zu sehr strapaziert worden. Wer von uns, die wir trotz unserer Jugend das politische Geschehen der letzten Wochen und Monate sehr bewusst miterlebt hatte, konnte wohl diesen Parolen noch Glauben schenken? Dass zu großer Druck den Topf zum Überkochen gebracht hatte, das konnten und durften die dafür Verantwortlichen wohl nicht eingestehen!

Gleich neben unserer Schule war die russische Kommandantur. Hier standen noch für einige Tage jeweils zwei oder drei Panzer. Während der großen Pausen durften wir nicht wie sonst in die Parkanlagen vor unserer Schule gehen. Da hielten sich jetzt tagsüber die Sowjetmenschen auf und räkelten sich auf dem Rasen. Von Tag zu Tag wurden es weniger, bis dann schließlich auch die letzten mitsamt den Panzern wieder aus dem Straßenbild verschwunden waren.

Ein Frühling war zu Ende!